Frei nach einem alten Werbespot zu einem gänzlich anderen Thema:
„Die Geschichte der Vertrauensarbeitszeit ist eine Geschichte voller Mißverständnisse!“
Das prominenteste davon ist die Annahme, dass der Begriffsbestandteil „Vertrauen“ sich auf den Verzicht einer arbeitgeberseitigen Kontrolle bezieht, wie lange bzw. wieviel gearbeitet wurde. Die ist falsch.
Das vertrauensvolle Element besteht darin, dass Beschäftigte die Lage ihrer Arbeitszeit ohne Vorabgenehmigung festlegen dürfen, solange betriebliche Erreichbarkeits- oder Kernarbeitszeitzeitregeln respektiert werden.
Das Vertrauen bezieht (und beschränkt) sich also konkret auf die Disposition des „Wann“ der Arbeitszeit durch die Beschäftigten – nicht auf einen Verzicht des Arbeitgebers, das tatsächliche Volumen – das Wieviel“ – der geleisteten Arbeitszeit zu kennen oder zu dokumentieren.
Ein solcher Verzicht wäre auch rechtlich unzulässig:
Die Pflicht zur vollständigen Arbeitszeiterfassung ist spätestens seit dem sog. „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019 (Rs. C-55/18) unmittelbar zu beachtendes Unionsrecht.
Nach diesem Urteil müssen Arbeitgeber „objektive, verlässliche und zugängliche“ Systeme einsetzen, die Beginn, Ende und Dauer jeder täglichen Arbeitszeit erfassen. Der EuGH stützt sich dabei auf Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta und die Arbeitszeitrichtlinien 2003/88 und 1989/391. Abweichungen sind nur in sehr engen Grenzen zulässig.
Auf nationaler Ebene hat das Bundesarbeitsgericht (BAG, Beschluss v. 13.09.2022 – 1 ABR 22/21) danach klargestellt, dass diese unionsrechtliche Pflicht bereits heute über § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG direkt in deutsches Recht hineinwirkt:
Der Arbeitgeber hat organisatorische Maßnahmen zu treffen und ein System einzuführen, mit dem sämtliche Arbeitszeiten, einschließlich Überstunden, fortlaufend dokumentiert werden. Die Einführung selbst steht nicht im Belieben des Betriebsrats; dessen Mitbestimmungsrecht erstreckt sich nur auf die konkrete Ausgestaltung.
Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) vertritt in seinen FAQ dieselbe Linie: Es genügt nicht, allein Überschreitungen der täglichen Höchstarbeitszeit zu protokollieren. Erforderlich ist die vollständige Erfassung jedes Arbeitstags. Das BMAS weist zugleich auf das Bußgeldrisiko nach § 22 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) hin, wenn Arbeitgeber untätig bleiben.
Aber was ist mit der guten alten Vertrauensarbeitszeit – bleibt die dann rechtlich überhaupt noch zulässig?
Die Antwortet lautet: Selbstverständlich. Denn eigentlich hat sich durch die o.g. Entscheidungen rechtlich nichts Grundsätzliches geändert.
Das deutsche Arbeitsrecht hat den Begriff „Vertrauensarbeitszeit“ nie als Freibrief verstanden, auf jegliche Zeitaufzeichnung zu verzichten. Schon vor dem „Stechuhr-Urteil“ galt schließlich § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG: Aufgezeichnet werden musste zumindest jede Minute, die täglich über acht Stunden hinausgeht.
Das Problem war weniger das geltende Recht, sondern die Praxis – und deren Deutungen, auch in Betriebsvereinbarungen oder durch Ratgeber. Behauptungen wie „Vertrauensarbeitszeit kommt ohne Zeiterfassung aus. […] Es gibt keine festen Zeitvorgaben durch den Vorgesetzten“ oder auch „Arbeitgeber verzichten bei der Vertrauensarbeitszeit auf die Kontrolle der genauen Arbeitszeit“ sind bestenfalls zumindest irreführend.
Dieses Verständnis von Vertrauensarbeitszeit stand schon vor 2019 auf dünnem Eis. Die bis dahin geltende Rechtslage ließ jedoch eine Grauzone zu: Wer als Arbeitgeber § 16 Abs. 2 ArbZG erfüllte, indem er die Aufzeichnungspflicht durch Bereitstellen eines Formulars o.ä. an den Arbeitnehmer delegierte, konnte seine originäre Kontrollaufgabe leicht auf seine Beschäftigten abwälzen. Und kontrolliert wurde danach eigentlich nur noch dann, wenn man eine(n) Beschäftigte(n) ohnehin loswerden und dies über fehlende Arbeitsleistung und / oder vorgeworfene Falschaufzeichnungen bewerkstelligen wollte oder Überstundenabgeltungen verlangt wurden.
Erst das EuGH-Urteil C-55/18 vom 14.05.2019 stellte klar, dass ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ die komplette Tagesarbeitszeit messen muss, damit Arbeitsschutz und Vergütungsansprüche praktisch durchsetzbar sind.
Der BAG-Beschluss vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) setzte diese Pflicht unmittelbar über § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG um, und stellte dann auch folgerichtig fest, dass der Betriebsrat die grundsätzliche Einführung von Zeiterfassung nicht verhindern kann, weil sie bereits gesetzlich geboten ist.
Die EuGH- bzw. BAG-Entscheidungen stellen also keinen dogmatischen Kurswechsel dar, sondern eher das Ende einer lange in der Praxis tolerierten Fehlinterpretation. Die rechtliche Grundregel – Arbeitnehmer schulden die vereinbarte Arbeitszeit, Arbeitgeber müssen deren Einhaltung kontrollieren – galt schon immer. Neu ist nur die faktische „Nulltoleranz“ bei der Umsetzung: Wer Zeiterfassung auf freiwillige Angaben oder nachträglich erstellte Auflistungen reduziert, riskiert Bußgelder, Haftung und eine verschobene Beweislast im Überstundenstreit.
Es fragt sich in diesem Zusammenhang dann, ob Vertrauensarbeitszeit in Umgebungen weiterhin praktikabel ist, in denen alle Beschäftigten (unabhängig von Vertrauensarbeitszeitvereinbarungen) ihre Arbeitszeit eigenständig in ein Zeiterfassungssystem eintragen – die Arbeitszeit also nicht durch den Arbeitgeber selbst erfasst bzw. aufgezeichnet wird. Dies ist zu bejahen, wenn der Begriff strikt lediglich als Dispositionsfreiheit hinsichtlich des Wann verstanden wird und nicht als Freibrief für fehlende Kontrolle.
In Projekt- und Wissensarbeit, in der Output schwer über Prozesskontrollen messbar ist, bietet Vertrauensarbeitszeit weiterhin kulturelle Vorteile: Flexibilität, Eigenverantwortung und höhere Motivation. Sie bleibt sinnvoll, wenn sie ergänzt wird um ein technisches Zeiterfassungssystem (Software, App), transparente Regeln zum Umgang mit Mehrarbeit und ein Reporting, das Überschreitungen der täglichen Höchst- sowie der wöchentlichen Durchschnittsgrenzen automatisiert anzeigt.
Die selbständige Erfassung durch die Arbeitnehmer erfüllt die unionsrechtlichen Anforderungen, wenn das von den Beschäftigten genutzte System unveränderbare Zeitstempel setzt, Arbeitgeber und Arbeitnehmer beiderseits Zugriff auf die Daten haben und eine Auswertung durch Führungskraft oder HR-Abteilung in angemessenen Intervallen stattfindet.
Das bedeutet in der Konsequenz allerdings auch, dass bei Mitarbeitenden, für die eine Vertrauensarbeitszeitregelung vereinbart ist, früher übliche und akzeptierte „Insellösungen“ wie z.B das Führen eigener Excel-Tabellen, handschriftlicher Liste o.ä. die lediglich stichprobenartig angefordert und kontrolliert wurden, als rechtskonforme Handhabung nicht (mehr) in Betracht kommen.
Auch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen, in denen unter dem Sachverhalt Vertrauensarbeit Ausnahmeregelungen formuliert sind, nach denen Arbeitszeit u.U. gar nicht erfasst wird oder allein der Arbeitnehmer aufzeichnet und „auf Zuruf“ Überstunden meldet, halten den unionsrechtlichen damit auch den deutschen gesetzlichen Anforderungen an den Arbeitsschutz nicht stand.
Überall dort, wo bereits ein Zeiterfassungssystem mit einer Gleitzeitregelung kombiniert gelebt wird, dürfte die Notwendigkeit zusätzlicher separater betrieblicher Regelungen zur Vertrauensarbeitszeit ohnehin einen sehr überschaubaren praktischen Erscheinungsbereich haben. Die Korrektur durch EuGH und BAG sollte hier zum Anlass für eine sinnvolle Anpassung bestehender Betriebs- oder Dienstvereinbarungen genommen werden.
Der Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes aus dem Jahr 2023 beschreitet den vorstehend skizzierten Weg: Er schreibt die elektronische, täglich zu führende Aufzeichnung ausdrücklich fest, erlaubt aber Ausnahmen für tarifgebundene Arbeitgeber und bei Vertrauensarbeitszeit, sofern Aufzeichnungspflichten gleichwohl eingehalten werden.
Seither hat sich allerdings gesetzgeberisch bislang auch noch nichts weiter getan.